Immer wieder bei Gesprächen über Yoga wird ein seltsames Tier erwähnt. Ein Tier, das es gar nicht gibt, aber jeder kennt es. In der Soldatensprache des ersten und zweiten Weltkrieges wird es viel und gern verwendet, Trainer und Sportlehrer haben es seitdem in Gebrauch. Der Schweinehund. Er steht für das Böse in uns, und das Böse ist das Bequeme, das Sich-Gehen-Lassen, das Tun-was-man-will. Aber was ist eigentlich los mit diesem Tier?
Der Lehrer meiner ersten Yogalehrerausbildung schlug es uns gern um die langen Ohren. Ein echter Yogi hat zu lernen, den inneren Schweinehund zu überwinden. So übt er täglich lange Yoga mit Asanas und Pranayama und Meditation. Nur so kommt er auf den rechten Weg und wird alle Verheißungen des achtstufigen Yogapfades erreichen. Nur so und nicht anders.
Ich habe den Lehrer meiner ersten Yogalehrerausbildung dann verlassen. Er war mir zu streng. Der Lehrer meiner zweiten Yogalehrerausbildung hat dann immerhin mehr die Bedeutung der inneren Stimme betont. Yoga stärkt den Zugang zu dir selbst. Konzentriere dich immer wieder auf Ajnya-Chakra, und du wirst einen Zugang zu deiner inneren Welt bekommen, die viel bedeutsamer ist, als das Gelärme um dich herum. Daran habe ich mich gehalten, wenn auch mein zweiter Lehrer noch sehr viel von Selbstüberwindung und Pflichten eines Yogi gehalten hat.
Mein Yogaweg begann zwar einerseits mit der Erkenntnis, dass es keine Alternative zum Yoga gibt, aber andererseits setzte er sich immer nur fort, weil es mir eine Lust war, Yoga zu üben. Mein Yogaweg begann erst ziemlich spät, mein Leben zu bestimmen. Nach drei Berufen, zwei Kindern und mehreren Beziehungen mit Lebensabschnittsgefährtinnen. Nun stecke ich mittendrin, und zwar ziemlich glücklich, mit einer eigenen Yogaschule und begeisterten Schülern und ganz viel Yoga und das ganz ohne Überwindung eines Hundes in mir. Ich glaube fast, in mir gibt es den nicht.
Tut nur, was eurem Körper gefällt!
Ich sage meinen Schülern immer: Tut nur, was eurem Körper gefällt! Eure Rückenschmerzen oder eure Überzeugung, Yoga sei gut für euch, führt euch nur einige Male auf die Yogamatte. Aber da spricht euer Geist. Und der ist nicht der Herr im Haus. Euer Herr ist der Körper mit seinen Wünschen und Bedürfnissen. Ihr müsst es für eure Körper attraktiv machen, zum Yoga zu kommen. Ihr müsst dem Körper Übungen anbieten, in denen er sich erleben kann, in denen er aufblüht, die ihn endlich einmal seine Konturen spüren lassen. Dann! Dann bringt er euch von selbst immer wieder dorthin. Dann treibt er euch als eure innere Stimme immer wieder auf die Matte, weil er sich wohl fühlt, nein, besser: weil er sich überhaupt fühlt!
So viele Yogarichtungen predigen, wir sollen uns überwinden. Wir sollen über uns hinauswachsen. Was für ein Quatsch! Wo wir uns doch noch nicht einmal gefunden haben! Und dann schon gleich über uns hinauswachsen. Was soll das? Wo soll das hinführen? Wo wir doch die Göttlichkeit selbst sind, wenn an der Yogaphilosophie etwas dran ist. Warum also nicht viel besser erst einmal in uns hinein wachsen, wie wäre das denn mal? Für mich gibt es kein verlockenderes Ziel.
Da gibt es selbsternannte Yogis, die wollen die Schwerkraft überwinden. Ich denke, die Schwerkraft ist doch Teil der Schöpfung und eine wundervolle Qualität, die es zu genießen gilt. Wie alle Erscheinungen der physischen Welt, die uns geschenkt wurde zum Erfahren, Erkunden, Auskosten. Dafür sind wir doch da. Das ist nämlich ein grundlegendes Missverständnis, dass wir zum Überwinden von uns selbst und zum Brechen von Naturgesetzen auf der Welt sind. Da ist etwas vollkommen falsch aufgefasst worden, und das Schlimme ist, dieser Fehler ist nicht ein erkenntnistheoretischer Fehlgriff, sondern dieser Fehler ist die logische Folge einer grundsätzlich falschen Lebenshaltung.
Unsere Gesellschaft basiert auf Fleiß
Wie konnte es dazu kommen? Was ist die Ursache für die Fehlleitung all der Soldaten und Sportlehrer unserer westlichen Tradition? Noch einmal: Warum erscheint vielen von uns Selbstüberwindung als ein Ziel. Warum ist eine innere Stimme, die nach Ruhe und Genuß sucht, ein Schweinehund?
Es fängt ja schon bei den Kindern an. Wenn du nicht reinlich, ordentlich, fleißig und strebsam bist, bestehst du nicht die Auslesen in Familie und Schule. Unsere Gesellschaft basiert auf Fleiß und dementsprechend sind auch die Verhaltensregeln und Normen, die wir uns gegeben haben: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über alles Lebendige, was auf Erden kriecht!“ So heißt es schon in der Schöpfungsgeschichte. Während im frühen Mittelalter noch der Stärkste gewinnen durfte, wurden es später die Klugen und die Strebsamen, die weiterkommen konnten. Warum sind magere Menschen zeitgemäß? Weil sie das Ideal der Selbstbeherrschung zum Ausdruck bringen. Diese Ideologie bleibt nicht äußerlich verordnet, sondern sie pflanzt sich offenbar ins Innerliche fort und prägt uns schließlich bis in erotische Vorlieben hinein.
So sieht es für mich doch sehr danach aus, als ob das Über-mich-hinaus-Wachsen-Sollen und das Streben nach harten Muskeln und dehnbaren Gelenken gerade auch im Yoga aus dem Wunsch, überlegen zu sein und gesellschaftlich bestehen zu können stammt.
Der durch Krankheiten und Alter bedrohte eigene Körper lebt mit einer tiefen Angst vor der eigenen Verletzlichkeit.
Die Regeln des Yoga, an sich zu arbeiten und Körper, Geist und Seele zu entwickeln, waren ursprünglich nicht formuliert worden, um im gesellschaftlichen Wettkampf zu bestehen und überlegen zu sein. Sie hatten einfach nur das Ziel, das Individuum von der Vorherrschaft des Denkens zu befreien. Dafür allein sollten die Gewebe des Körpers gereinigt und der Geist ertüchtigt werden. Für dieses Ziel muss ich nun aber gar nicht den Kopf auf die Knie legen können oder den Fuß hinter das Ohr. Dafür muss ich viel mehr in mich hineinhorchen lernen und Spüren anstatt Überwinden.
Wenn ich niemandem etwas beweisen muss, dann ist da auf einmal auch kein Schweinehund mehr, dessen Existenz mich quälen könnte.
Ein Grund für die angestrebte Selbstüberwindung mag dieser verinnerlichte Zwang zu gesellschaftlicher Überlegenheit sein. Ein anderer Antrieb dafür speist sich vielleicht aus dem Wunsch, das innere Chaos zu beherrschen. Angst vor Kontrollverlust ist nach Wilhelm Reich ein Grundphänomen unserer psychischen Welt. Der durch Krankheiten und Alter bedrohte eigene Körper lebt mit einer tiefen Angst vor der eigenen Verletzlichkeit. Yoga verspricht, die bisher nicht kolonisierten Gebiete der physischen Existenz zu entdecken, sie urbar und beherrschbar zu machen. Dem kampfeslustigen Yogi leuchtet ein, dass das bloße Hineinspüren nicht genügt für diese Eroberung. Wir sind es gewohnt, dass zum Gewinnen ein Kampf nötig ist, und in diesen Kampf um das eigene Leben stürzen wir uns mit Lust und Freude. Fatal aber ist das Missverständnis, welches hier vorliegt: Dieser Fight kann nicht gewonnen werden, weil das Ziel, Krankheit und Alter zu besiegen, nie erreicht werden kann. Auch hier zeigt sich der Weg der Selbstüberwindung als untauglich.
Mich erreichen aus Indien immer wieder tatsächlich Einladungen zu Yoga-Competitions. Da treten Yoga-Übende aus allen Landesteilen gegen einander an, und es geht ganz offensichtlich um die artistische Verformung von menschlichen Körpern in irgendwelche Extreme. Vielleicht werden davor oder danach Mantren gesungen, aber die ursprüngliche Absicht von Yoga scheint mir dabei doch verfehlt.
Yoga ist das Erkunden der eigenen Konturen
Weiter oben habe ich schon angedeutet, was für mich das ursprüngliche Anliegen von Yoga ist. Ich versuche es hier noch einmal zu formulieren: Yoga ist das Erkunden der eigenen Konturen. Das Erfahren der Möglichkeiten von allen Sinnen, Gliedern und Organen unseres Körpers. Unsere Körper sind die Sinnesorgane des Universums. In uns kommt die Schöpfung zum Bewusstsein, genauso natürlich wie in allen anderen Stofflichkeiten dieser Existenz.
Unser Drang zu Extremen, und der Wunsch, über uns hinauszugehen, unsere Kräfte immer mehr und mehr zu vergrößern, stammt sicher aus der Evolution der Säugetiere und deren verständlicher Tendenz, sich gegenüber anderen Vertretern der eigenen Art und anderen Gattungen der Schöpfung durchzusetzen.
Für unsere Suche nach wahren Antworten auf die Fragen: wozu bin ich da? Für unsere Sehnsucht, die Einheit von uns und den anderen zu spüren, hat das Bestreben nach Überwindung und Vorherrschaft keinerlei Bedeutung. Der lustvolle Kampf im und mit dem eigenen Körper ist schön und kann so viel Freude machen, dass ich gar nicht aufhören will zu üben. Aber ich sollte mir über das lohnende Ziel im Klaren sein.
Warum fliegen lernen?
Komm an im Hier und Jetzt. So tönt jeder Yogalehrer gegenüber seien Schülern. Aber die meisten ziehen ihre Follower dann ganz brutal in die Zukunft: Stelle diese Stunde unter ein Motto, fordern sie, was nimmst du dir vor für die nächste Zeit? wähle ein Ziel, das für dich erreichbar ist und denke im Verlauf der Stunde immer wieder daran!
Nun gut. So ein Sangkaplam kann wie ein Mantra wichtige Ziele so oft wiederholen, bis sie internalisiert sind: Ich brauche die Zigarette nicht mehr! Heute schaffe ich den Kopfstand! Ich gönne mir ab jetzt mehr Schlaf. Und es mag so auch ein schöner Transfer in den Alltag möglich werden.
Aber dennoch, ich finde, das alles führt eher heraus aus dem Augenblick, bindet dich an Wünsche aus der Vergangenheit und Ziele der Zukunft an. Sicher ist die gedankliche Bindung an ein Ziel in Indien entstanden. Aber ist sie deswegen automatisch richtig? Ich denke, hier spielt die Enttäuschung des Kindes eine Rolle, das genau weiß, wieviel Mühe es sich auch gibt, das erträumte Ziel erreicht es auf keine Weise. Und so beginnt es zu wünschen und zu träumen. In der Autobiografie eine Yogi beschriebt Yogananda so herzerfrischend ehrlich, wie er mit jugendlichen Kollegen die Wunder herbeisehnt und herbeizaubert. Dass dem sehnlichen Wunsch später die scheinbare Erfüllung folgt, beweist nicht, dass Wunder nötig sind.
Wie gesagt: Warum Fliegen lernen? Warum 1000 Jahre alt werden? Diese Existenz ist vollkommen, wenn wir sie nur richtig verstehen.
Ich betreibe nun seit mehr als 10 Jahren Yoga. ursprünglich hatte ich den Beruf des Gymnasiallehrers erlernt. Wirtschaftlicher Erfolg brachte mir die Möglichkeit einer Yogalehrerausbildung und Yoga-Schulgründung. Ich kommen nicht „vom Tanz“ wie so viele. Ich war auch nie Turner oder Artist. Ich war immer ein wenig ungelenk und vorbeugefaul. Oft hatte ich deswegen ein schlechtes Gewissen.
Durch die regelmäßige Praxis entwickelte sich mein Körper – ich kann inzwischen ohne Krampf im Hüftgelenk ziemlich lange in ardha chandra asana verweilen. Und mein Geist: Ich kann während einer Asana im Geiste in mir herumwandern und in unzähligen kleinen Gelenken und Muskelfasern Besuche abstatten, von deren Existenz ich früher nichts wusste.
Das alles belohnt sich nur durch die dabei erlebte Freude. Nicht das Geld, welches die Schüler zahlen oder deren glänzende Augen und das Danke nach den Stunden. Auch nicht die Aussicht auf ein schmerzfreies Alter oder das nette Image: Yogalehrer-Sein ist schon cool!
Die Freude ist es, die zählt. Und einen Schweinehund hat es in mir nie gegeben, jedenfalls keinen bösen.
Ich halte es für wichtig, Yoga-Übenden den Druck zum Erreichen von Dehnungs-, Kraft-, und Weichheitszielen zu nehmen und sie immer wieder zu ermutigen, dass ihr augenblicklicher Stand die vollkommene Voraussetzung zum Glück in der Verbindung mit dem Kosmos ist. Üben ist wohl nötig, aber keine Selbstüberwindung. Ganz im Gegenteil: Finden sollst du dich, nicht überwinden!
Thomas Propp, Inhaber der Yogaschule Yogalila in Berlin Prenzlauer Berg, 12.11.2016