„Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.“ (B. Brecht)
Ratschläge prägen sich mir tief ein. „Junge, pass bloß auf, wenn du schielst und die Kirchturmuhr schlägt, dann bleiben deine Augen für immer so stehen.“ Natürlich wusste ich damals schon, als meine Mutter das sagte, dass das Quatsch ist. Aber seitdem muss ich immer daran denken. Bei jedem Schielen. Oder, das sagte meine Mutter auch: „Wer sich an Lief benäht, bescheet sich in doot!“ Übersetzt: „Wer an etwas näht, das er am Körper trägt, kackt noch mal, wenn er stirbt.“ Absurd, aber ich muss immer wieder daran denken, wenn ich den Knopf annähe, währen das Hemd noch über meinem Bauch flattert.
„Drei Hornissen sind des Pferdes Tod.“ Totaler Blödsinn. Meine Tochter hatte kürzlich einen Hornissenbiss. War nicht so schlimm. Vielleicht, wenn diese den Gaul in den Gaumen stechen, aber sonst nie. Aber unvermeidlich, immer bei Hornissenkontakt an diesen weisen Spruch einer angeblichen Todeserfahrung zu denken. Die Sorge fängt einen ein.
Oder nehmen wir die Wanderstöcke. Angeblich das Produkt eines findigen nicht ausgelasteten Skistockherstellers, empfehlen sie sich nur in wenigen, eng begrenzten Einsatzbereichen. Ansonsten vermindern sie die Selbstorganisation und das gerade für Ältere so wichtige Training des Gleichgewichtssinnes. Aber es hilft doch so schön, es unterstützt die schwachen Gelenke, und sie sind doch empfohlen worden von Experten.
Ganz zu schweigen von den zwei Zentimetern Gummi, am besten noch mit Einlagen darüber, welche die Menschheit zwischen ihre Fußsohlen und die Oberfläche von Mutter Erde schieben. Weniger wäre mehr, das weiß man inzwischen, aber weniger wäre auch weniger Umsorgt-Werden, weniger Schutz, weniger hilfreiche Wissenschaft.
„Nicht so! So!“ Ruft mir die ältere Dame freundlich und engagiert nach, während ich an ihr vorbei jogge. Dabei ahmt sie zuerst meine vor mir hin und her schwingenden Arme nach, dann führt sie die Arme exakt parallel neben dem Körper vor und zurück. Ich bin ganz gerührt wegen so inniger Anteilnahme. Sie will mir helfen, mich auf den besseren Weg bringen. Ich sehe sie vor mir, wie sie mit Gleichgesinnten beim Seniorensport von ihrem Trainer belehrt wird: besser für den Schwung, besser für Ihr altes Gelenk, nehmen Sie das mit nach Haus! Aber ich glaube es nicht. Da hat sich wieder einer etwas ausgedacht, der mit Expertenwissen jemanden beeindrucken wollte, seinen Expertenstatus belegen, beweisen, überhaupt seine Existenz rechtfertigen wollte.
Und Großmütter, das sind ja die besten Expertinnen überhaupt. Kind, du musst dir doch die Haare trocknen nach dem Baden, sonst hast du morgen einen Schnupfen oder Schlimmeres. Väter wissen, das ist Unsinn. Menschliche Körper trainieren seit Jahrtausenden den Umgang mit Kälte und Wärme. Gerade unser flexibler und gut regulierter Wärmehaushalt machte uns den meisten anderen Spezies überlegen. Aber überzeuge davon mal die besorgte Mutter. Hast du auch ein Handtuch dabei? Nimm lieber noch eine Jacke mit! Oder zwei. Die Sandalen sind doch viel zu kalt. Auf keinen Fall barfuß! Ohne Schal gehst du mir nicht raus! Und wenn du Kirschen gegessen hast, trinke kein Wasser hinterher. Du bekommst sonst entsetzliche Bauchschmerzen. Und nach dem Eis auf keinen Fall Brause!
Es fällt selbst mir als Erwachsenem verteufelt schwer, mich der Sorge zu entziehen. Ja, es war wohl im Laufe der Evolution nützlich, sich wohl gemeinten Ratsprüchen zu unterwerfen. Aber muss ich mir deshalb nach so langer geistiger Entwicklung, nach dem Absolvieren von Schule und Studium und nach der Erfahrung des Großziehens mehrerer Kinder und einer erfolgreichen beruflichen Laufbahn immer noch beschwichtigende Geschichten erzählen, wenn ich nachts – alles ist seit Stunden still, kein Fahrzeug weit und breit, überschaubares Gelände – bei Rot über die Kreuzung gehe?
Wie tief sitzt die Ehrfurcht vor den wohlmeinenden Eltern, Chefs, selbsternannten Experten, dass ich es mir nicht selbst zutraue zu beurteilen, wie gefährlich eine Epidemie ist?
In den Zeiten der Pest erfand man in Europa den Sorgeausruf „Gesundheit!“ Aber bitte verschone mich doch heute, wo keine Leichen auf den Bürgersteigen stinken, wo niemand in größerer Gefahr ist als der, die ein gewöhnliches Leben eben immer so mit sich bringt, mit dem beschwörenden Angstruf: „Und bleibe gesund!“ Es erinnert mich immer so verstörend daran, wie unterschiedlich wir die Welt sehen und wie einsam ich manchmal mit meiner Sehnsucht bin, mich von eurer sorgenden Gewalttätigkeit zu befreien.

