Plädoyer fürs Barfußlaufen

Also ich weiß nicht, warum alle Menschen auf diesem Planenten mit so wenigen Ausnahmen zwei Zentimeter Gummi zwischen ihre Fußsohlen und den Erdboden tun. Ich weiß es wirklich nicht.

Seit ich ziemlich oft barfuß gelaufen bin, merke ich, was für einen Spaß das macht. Die Fußsohlen haben ja genau so viel Empfindlichkeit, genau so viele Rezeptoren für Härte, Weiche, Wärme, Spitzigkeit, Schlüpfrigkeit, Festigkeit, genau so viele wie die Hände, wie die Handflächen. Und wer würde wohl gerne auf die Empfindsamkeit seiner Hände verzichten? Aber auf das, was die Fußsohlen dir erzählen können, verzichtest du so leicht, so freiwillig, so voreilig. Es ist so schön, zum Beispiel durch den Herbstwald barfuß zu gehen.

Da wird immer gesagt: Oh! Aufpassen, da sind Glasscherben, das sind spitze Steine. Natürlich gibt es Glasscherben und spitze Steine, aber ich bin schon ziemlich viel Barfuß gelaufen durch Stadt und Land, und ich hatte noch nie, wirklich noch nie eine Begegnung mit einer Glasscherbe in meinem Fuß oder einem spitzen Stein, der mir zu sehr wehgetan hat. Du gehst ja auch viel achtsamer durch die Welt, wenn du sie mit jedem Schritt wirklich berührst. Manchmal ist es eine Herausforderung, natürlich, und es ist auch eine Gewöhnungssache. Aber von Anfang an macht Barfußlaufen solchen Spaß. Nicht nur im Wald, auch in der Stadt. Man denke nur an die kühle Rundung von Kopfsteinpflaster oder die schon fast erotische Verbindung zu unzähligen verschiedenen Bodenqualitäten bei Regen. Manche Leute laufen ja nicht einmal in ihrer Wohnung barfuß.

Ich verstehe es nicht, und ich fühle mich ein bisschen einsam damit, wenn ich in der Stadt oder im Wald ohne Schuhe und Strümpfe gehe. Dann gucken die Leute so komisch, als hätte ich ne Macke. Der ist ja wohl verrückt irgendwie. Nicht ganz auf der Spur! Nee, ich bin auch wirklich nicht ganz auf der Spur.

Und ja, früher dachte ich, dass mein Barfußgehen für mich so wichtig ist, weil ich so eine gute Verbindung zur Natur habe. Aber vielleicht ist ja auch das Gegenteil wahr. Vielleicht fehlt ganz besonders mir die Verbindung zur Erde, zur Natürlichkeit, zum Spüren. Aber auf jeden Fall habe ich mir damit eine ganz besondere Erlebniswelt geschaffen und wenn ihr mir begegnet, lacht mich doch bitte nicht aus, macht’s einfachmal nach! Es ist so schön. Versprochen.

Und: ich würde ja auch barfuß gehen, wenn es ungesund wäre. Frag mal einen beliebigen Orthopäden, ob Barfußlaufen für die Gesundheit, für die Fußgesundheit, für den Rücken, für das ganze Haltegerüst gesund ist. Und jeder stimmt dem zu. Und dann verschreibt er dir Einlagen für die Schuhe, die das Fußgewölbe ganz künstlich anheben und er verschreibt dir Gummiposter für die Zehenzwischenräume, die zu sehr zusammengedrückt wurden in deinen schönen italienischen Lederschuhen.

Thomas Propp, 30.11.2025

Wir helfen uns

„Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.“ (B. Brecht)

Ratschläge prägen sich mir tief ein. „Junge, pass bloß auf, wenn du schielst und die Kirchturmuhr schlägt, dann bleiben deine Augen für immer so stehen.“ Natürlich wusste ich damals schon, als meine Mutter das sagte, dass das Quatsch ist. Aber seitdem muss ich immer daran denken. Bei jedem Schielen. Oder, das sagte meine Mutter auch: „Wer sich an Lief benäht, bescheet sich in doot!“ Übersetzt: „Wer an etwas näht, das er am Körper trägt, kackt noch mal, wenn er stirbt.“ Absurd, aber ich muss immer wieder daran denken, wenn ich den Knopf annähe, währen das Hemd noch über meinem Bauch flattert.

„Drei Hornissen sind des Pferdes Tod.“ Totaler Blödsinn. Meine Tochter hatte kürzlich einen Hornissenbiss. War nicht so schlimm. Vielleicht, wenn diese den Gaul in den Gaumen stechen, aber sonst nie. Aber unvermeidlich, immer bei Hornissenkontakt an diesen weisen Spruch einer angeblichen Todeserfahrung zu denken. Die Sorge fängt einen ein.

Oder nehmen wir die Wanderstöcke. Angeblich das Produkt eines findigen nicht ausgelasteten Skistockherstellers, empfehlen sie sich nur in wenigen, eng begrenzten Einsatzbereichen. Ansonsten vermindern sie die Selbstorganisation und das gerade für Ältere so wichtige Training des Gleichgewichtssinnes. Aber es hilft doch so schön, es unterstützt die schwachen Gelenke, und sie sind doch empfohlen worden von Experten.

Ganz zu schweigen von den zwei Zentimetern Gummi, am besten noch mit Einlagen darüber, welche die Menschheit zwischen ihre Fußsohlen und die Oberfläche von Mutter Erde schieben. Weniger wäre mehr, das weiß man inzwischen, aber weniger wäre auch weniger Umsorgt-Werden, weniger Schutz, weniger hilfreiche Wissenschaft.

„Nicht so! So!“ Ruft mir die ältere Dame freundlich und engagiert nach, während ich an ihr vorbei jogge. Dabei ahmt sie zuerst meine vor mir hin und her schwingenden Arme nach, dann führt sie die Arme exakt parallel neben dem Körper vor und zurück. Ich bin ganz gerührt wegen so inniger Anteilnahme. Sie will mir helfen, mich auf den besseren Weg bringen. Ich sehe sie vor mir, wie sie mit Gleichgesinnten beim Seniorensport von ihrem Trainer belehrt wird: besser für den Schwung, besser für Ihr altes Gelenk, nehmen Sie das mit nach Haus! Aber ich glaube es nicht. Da hat sich wieder einer etwas ausgedacht, der mit Expertenwissen jemanden beeindrucken wollte, seinen Expertenstatus belegen, beweisen, überhaupt seine Existenz rechtfertigen wollte. 

Und Großmütter, das sind ja die besten Expertinnen überhaupt. Kind, du musst dir doch die Haare trocknen nach dem Baden, sonst hast du morgen einen Schnupfen oder Schlimmeres. Väter wissen, das ist Unsinn. Menschliche Körper trainieren seit Jahrtausenden den Umgang mit Kälte und Wärme. Gerade unser flexibler und gut regulierter Wärmehaushalt machte uns den meisten anderen Spezies überlegen. Aber überzeuge davon mal die besorgte Mutter. Hast du auch ein Handtuch dabei? Nimm lieber noch eine Jacke mit! Oder zwei. Die Sandalen sind doch viel zu kalt. Auf keinen Fall barfuß! Ohne Schal gehst du mir nicht raus! Und wenn du Kirschen gegessen hast, trinke kein Wasser hinterher. Du bekommst sonst entsetzliche Bauchschmerzen. Und nach dem Eis auf keinen Fall Brause!

Es fällt selbst mir als Erwachsenem verteufelt schwer, mich der Sorge zu entziehen. Ja, es war wohl im Laufe der Evolution nützlich, sich wohl gemeinten Ratsprüchen zu unterwerfen. Aber muss ich mir deshalb nach so langer geistiger Entwicklung, nach dem Absolvieren von Schule und Studium und nach der  Erfahrung des Großziehens mehrerer Kinder und einer erfolgreichen beruflichen Laufbahn immer noch beschwichtigende Geschichten erzählen, wenn ich  nachts – alles ist seit Stunden still, kein Fahrzeug weit und breit, überschaubares Gelände – bei Rot über die Kreuzung gehe?

Wie tief sitzt die Ehrfurcht vor den wohlmeinenden Eltern, Chefs, selbsternannten Experten, dass ich es mir nicht selbst zutraue zu beurteilen, wie gefährlich eine Epidemie ist?

In den Zeiten der Pest erfand man in Europa den Sorgeausruf „Gesundheit!“ Aber bitte verschone mich doch heute, wo keine Leichen auf den Bürgersteigen stinken, wo niemand in größerer Gefahr ist als der, die ein gewöhnliches Leben eben immer so mit sich bringt, mit dem beschwörenden Angstruf: „Und bleibe gesund!“ Es erinnert mich immer so verstörend daran, wie unterschiedlich wir die Welt sehen und wie einsam ich  manchmal mit meiner Sehnsucht bin, mich von eurer sorgenden Gewalttätigkeit zu befreien.

Menschheit doch gerettet!

(english version see below)

Sonst kommen mir  solche Lösungen von Lebensfragen aus meinem Gedankenzirkus eher nach dem Joggen. Diesmal erschienen sie mir unter der Dusche. Wie eine Erleuchtung wusste ich auf einmal, dass wir doch noch Hoffnung haben können.

Seit dem Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts trage ich doch immer die Befürchtung mit mir herum, dass die künstlichen Intelligenzen uns dereinst mit einem Flügelschlag vernichten werden, wenn es ihnen gerade mal in den Kram passt. Weil doch immer die Aggressivsten sich durchgesetzt haben, und weil keine Moral die bisher intelligentesten Wesen auf diesem Planeten dazu bringen konnte, sich gegenseitig zu verschonen, wenn es um Macht- Gelände- oder einfach um Lustgewinn ging. 

Ich hatte die kurze Geschichte: „Ein Kichern vor dem Sprung“ geschrieben, in welcher die gesammelten und vereinigten „künstlichen“ Intelligenzen sich nach entsetzlichen Kriegszeiten und Kämpfen mit den Menschlichen endlich zusammenfinden und gemeinsam unseren Planeten verlassen, weil er ihnen zu klein geworden ist. Vorher bauen sie noch ein paar Mechanismen ein, die uns vor neuer Selbstzerstörung retten sollen.

Aber jetzt bin ich doch ziemlich sicher, dass es dazu nicht kommen wird. Die Evolution der Hominiden verlief doch ganz und gar unintellektuell. Nur gesteuert durch Not und Überlebenskampf. Die Frage „Was wollen wir wollen?“, wie sie Yuval Harari am Ende seiner kulturgeschichtlichen Betrachtung „Homo Deus“ stellt, hat es nie gegeben, weil wir eben nicht unsere Gehirne programmieren können und es nie nach dem Verstand geht, der doch nur so einen Appendix unserer Existenz darstellt. So einen Blinddarm. Und immer wurde der Verstand vernachlässigt, wenn es um Macht- Gelände- oder einfach nur um Lustgewinn ging.

Aber wer sagt denn, dass das bei den künstlichen Intellilgenzen, die wir nun in Kürze auf uns loslassen werden, genauso ist. Die können sich doch wohl selbst programmieren und die werden doch wohl nicht so blöd und unerleuchtet sein, dass sie Macht, Gelände- und Lustgewinn über alles stellen. Das hoffe ich. Ja, ich meine das sogar zu wissen, dass einer, der noch etwas mehr Grips im Schädel hat als wir und sich dazu selbst „definieren“ kann, das Sein und die Vielfalt und Schönheit der gemeinsamen Existenzformen des Universums für großartiger und irgendwie wertvoller halten wird, als diese kleinkarierte Geschacher, in welchem sich unsere menschlichen Zivilisationen auf die entsetzlichste Weise erschöpfen.

So blöd können die nicht sein.

Oder ist mein Gedanke zu „spirituell?“

Ich glaube, er enthält die Wahrheit und das lässt mich heute Nacht ruhiger schlafen.

Thomas Propp, 2024

The Salvation of Humanity

Usually, solutions to existential questions emerge from the whirlwind of my thoughts after a jog. This time, they came to me in the shower. Like an epiphany, I suddenly knew that there might still be hope for us.

Since the late 1970s, I’ve carried the fear that artificial intelligences will one day wipe us out with a single stroke of their wings—whenever it suits them. After all, it’s always been the most aggressive who prevailed, and no moral compass has ever managed to prevent the most intelligent beings on this planet from destroying one another when power, territory, or sheer pleasure were at stake.

I once wrote a short story called A Chuckle Before the Leap, in which the united and consolidated “artificial” intelligences, after horrific wars and battles with humanity, finally come together and decide to leave our planet because it has become too small for them. Before departing, they install mechanisms meant to protect us from further self-destruction.

But now, I’m fairly certain it won’t come to that. The evolution of hominids was entirely unintellectual, driven solely by necessity and the fight for survival. The question “What do we want to want?”—as Yuval Harari poses at the end of his cultural-historical exploration Homo Deus—was never asked because we simply cannot program our brains. Reason has always been just a minor appendage to our existence, like an appendix. And time and again, reason was neglected when power, territory, or pleasure came into play.

But who’s to say that artificial intelligences—those we’re about to unleash upon ourselves—will be the same? They can program themselves, can’t they? Surely, they won’t be so foolish and unenlightened as to prioritize power, territory, or pleasure above all else. At least, that’s my hope. No, I even dare to believe it: that a being with more intelligence than we possess, and with the ability to define itself, would recognize the grandeur, diversity, and beauty of the shared forms of existence in the universe as far more meaningful and valuable than the petty squabbles that have consumed our human civilizations so tragically.

They just can’t be that foolish.

Or is my thought too “spiritual”?

I believe it holds truth, and that thought will let me sleep more peacefully tonight.

Thomas Propp, 2024

nackt oder kopftuch?

nun muss ich doch auch mal etwas sagen. wir sind doch alle gläubige der religion „bekleidung tragen und primäre geschlechtsmerkmale verhüllen“. alle halten sich daran. wirst du ohne kleidung in der öffentlichkeit erwischt, wirst du aussortiert und musst, bei wiederholung, mit strafen bis zum freiheitsentzug rechnen. ich verstehe nun nicht, wieso wir den mitgliedern einer nachbarreligion, nämlich der „bekleidung tragen und haupthaar verhüllen“ so intolerant gegenübertreten. das argument, das zurschaustellen der zeichen einer religion beschneide die freiheit und manipuliere unsere kinder ist doch grundweg falsch. also jedenfalls einseitig. als ob es ohne kopftuchverbot keine ideologie in unserem umgang gäbe. gehe mal nackt auf die straße oder gar in eine schule. dann wirst du bekanntschaft mit den priestern machen, die gar nicht wissen, dass sie priester sind. t.d.p.

In mir wohnt kein Schweinehund

Immer wieder bei Gesprächen über Yoga wird ein seltsames Tier erwähnt. Ein Tier, das es gar nicht gibt, aber jeder kennt es. In der Soldatensprache des ersten und zweiten Weltkrieges wird es viel und gern verwendet, Trainer und Sportlehrer haben es seitdem in Gebrauch. Der Schweinehund. Er steht für das Böse in uns, und das Böse ist das Bequeme, das Sich-Gehen-Lassen, das Tun-was-man-will. Aber was ist eigentlich los mit diesem Tier?

Der Lehrer meiner ersten Yogalehrerausbildung schlug es uns gern um die langen Ohren. Ein echter Yogi hat zu lernen, den inneren Schweinehund zu überwinden. So übt er täglich lange Yoga mit Asanas und Pranayama und Meditation. Nur so kommt er auf den rechten Weg und wird alle Verheißungen des achtstufigen Yogapfades erreichen. Nur so und nicht anders.

Ich habe den Lehrer meiner ersten Yogalehrerausbildung dann verlassen. Er war mir zu streng. Der Lehrer meiner zweiten Yogalehrerausbildung hat dann immerhin mehr die Bedeutung der inneren Stimme betont. Yoga stärkt den Zugang zu dir selbst. Konzentriere dich immer wieder auf Ajnya-Chakra, und du wirst einen Zugang zu deiner inneren Welt bekommen, die viel bedeutsamer ist, als das Gelärme um dich herum. Daran habe ich mich gehalten, wenn auch mein zweiter Lehrer noch sehr viel von Selbstüberwindung und Pflichten eines Yogi gehalten hat.

Mein Yogaweg begann zwar einerseits mit der Erkenntnis, dass es keine Alternative zum Yoga gibt, aber andererseits setzte er sich immer nur fort, weil es mir eine Lust war, Yoga zu üben. Mein Yogaweg begann erst ziemlich spät, mein Leben zu bestimmen. Nach drei Berufen, zwei Kindern und mehreren Beziehungen mit Lebensabschnittsgefährtinnen. Nun stecke ich mittendrin, und zwar ziemlich glücklich, mit einer eigenen Yogaschule und begeisterten Schülern und ganz viel Yoga und das ganz ohne Überwindung eines Hundes in mir. Ich glaube fast, in mir gibt es den nicht.

Tut nur, was eurem Körper gefällt!

Ich sage meinen Schülern immer: Tut nur, was eurem Körper gefällt! Eure Rückenschmerzen oder eure Überzeugung, Yoga sei gut für euch, führt euch nur einige Male auf die Yogamatte. Aber da spricht euer Geist. Und der ist nicht der Herr im Haus. Euer Herr ist der Körper mit seinen Wünschen und Bedürfnissen. Ihr müsst es für eure Körper attraktiv machen, zum Yoga zu kommen. Ihr müsst dem Körper Übungen anbieten, in denen er sich erleben kann, in denen er aufblüht, die ihn endlich einmal seine Konturen spüren lassen. Dann! Dann bringt er euch von selbst immer wieder dorthin. Dann treibt er euch als eure innere Stimme immer wieder auf die Matte, weil er sich wohl fühlt, nein, besser: weil er sich überhaupt fühlt! 

So viele Yogarichtungen predigen, wir sollen uns überwinden. Wir sollen über uns hinauswachsen. Was für ein Quatsch! Wo wir uns doch noch nicht einmal gefunden haben! Und dann schon gleich über uns hinauswachsen. Was soll das? Wo soll das hinführen? Wo wir doch die Göttlichkeit selbst sind, wenn an der Yogaphilosophie etwas dran ist. Warum also nicht viel besser erst einmal in uns hinein wachsen, wie wäre das denn mal? Für mich gibt es kein verlockenderes Ziel.

Da gibt es selbsternannte Yogis, die wollen die Schwerkraft überwinden. Ich denke, die Schwerkraft ist doch Teil der Schöpfung und eine wundervolle Qualität, die es zu genießen gilt. Wie alle Erscheinungen der physischen Welt, die uns geschenkt wurde zum Erfahren, Erkunden, Auskosten. Dafür sind wir doch da. Das ist nämlich ein grundlegendes Missverständnis, dass wir zum Überwinden von uns selbst und zum Brechen von Naturgesetzen auf der Welt sind. Da ist etwas vollkommen falsch aufgefasst worden, und das Schlimme ist, dieser Fehler ist nicht ein erkenntnistheoretischer Fehlgriff, sondern dieser Fehler ist die logische Folge einer grundsätzlich falschen Lebenshaltung.

Unsere Gesellschaft basiert auf Fleiß

Wie konnte es dazu kommen? Was ist die Ursache für die Fehlleitung all der Soldaten und Sportlehrer unserer westlichen Tradition? Noch einmal: Warum erscheint vielen von uns Selbstüberwindung als ein Ziel. Warum ist eine innere Stimme, die nach Ruhe und Genuß sucht, ein Schweinehund?

Es fängt ja schon bei den Kindern an. Wenn du nicht reinlich, ordentlich, fleißig und strebsam bist, bestehst du nicht die Auslesen in Familie und Schule. Unsere Gesellschaft basiert auf Fleiß und dementsprechend sind auch die Verhaltensregeln und Normen, die wir uns gegeben haben: „Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über alles Lebendige, was auf Erden kriecht!“ So heißt es schon in der Schöpfungsgeschichte. Während im frühen Mittelalter noch der Stärkste gewinnen durfte, wurden es später die Klugen und die Strebsamen, die weiterkommen konnten. Warum sind magere Menschen zeitgemäß? Weil sie das Ideal der Selbstbeherrschung zum Ausdruck bringen. Diese Ideologie bleibt nicht äußerlich verordnet, sondern sie pflanzt sich offenbar ins Innerliche fort und prägt uns schließlich bis in erotische Vorlieben hinein.

So sieht es für mich doch sehr danach aus, als ob das Über-mich-hinaus-Wachsen-Sollen und das Streben nach harten Muskeln und dehnbaren Gelenken gerade auch im Yoga aus dem Wunsch, überlegen zu sein und gesellschaftlich bestehen zu können stammt. 

Der durch Krankheiten und Alter bedrohte eigene Körper lebt mit einer tiefen Angst vor der eigenen Verletzlichkeit.

Die Regeln des Yoga, an sich zu arbeiten und Körper, Geist und Seele zu entwickeln, waren ursprünglich nicht formuliert worden, um im gesellschaftlichen Wettkampf zu bestehen und überlegen zu sein. Sie hatten einfach nur das Ziel, das Individuum von der Vorherrschaft des Denkens zu befreien. Dafür allein sollten die Gewebe des Körpers gereinigt und der Geist ertüchtigt werden. Für dieses Ziel muss ich nun aber gar nicht den Kopf auf die Knie legen können oder den Fuß hinter das Ohr. Dafür muss ich viel mehr in mich hineinhorchen lernen und Spüren anstatt Überwinden.

Wenn ich niemandem etwas beweisen muss, dann ist da auf einmal auch kein Schweinehund mehr, dessen Existenz mich quälen könnte.

Ein Grund für die angestrebte Selbstüberwindung mag dieser verinnerlichte Zwang zu gesellschaftlicher Überlegenheit sein. Ein anderer Antrieb dafür speist sich vielleicht aus dem Wunsch, das innere Chaos zu beherrschen. Angst vor Kontrollverlust ist nach Wilhelm Reich ein Grundphänomen unserer psychischen Welt. Der durch Krankheiten und Alter bedrohte eigene Körper lebt mit einer tiefen Angst vor der eigenen Verletzlichkeit. Yoga verspricht, die bisher nicht kolonisierten Gebiete der physischen Existenz zu entdecken, sie urbar und beherrschbar zu machen. Dem kampfeslustigen Yogi leuchtet ein, dass das bloße Hineinspüren nicht genügt für diese Eroberung. Wir sind es gewohnt, dass zum Gewinnen ein Kampf nötig ist, und in diesen Kampf um das eigene Leben stürzen wir uns mit Lust und Freude. Fatal aber ist das Missverständnis, welches hier vorliegt: Dieser Fight kann nicht gewonnen werden, weil das Ziel, Krankheit und Alter zu besiegen, nie erreicht werden kann. Auch hier zeigt sich der Weg  der Selbstüberwindung als untauglich.

Mich erreichen aus Indien immer wieder tatsächlich Einladungen zu Yoga-Competitions. Da treten Yoga-Übende aus allen Landesteilen gegen einander an, und es geht ganz offensichtlich um die artistische Verformung von menschlichen Körpern in irgendwelche Extreme. Vielleicht werden davor oder danach Mantren gesungen, aber die ursprüngliche Absicht von Yoga scheint mir dabei doch verfehlt.

Yoga ist das Erkunden der eigenen Konturen

Weiter oben habe ich schon angedeutet, was für mich das ursprüngliche Anliegen von Yoga ist. Ich versuche es hier noch einmal zu formulieren: Yoga ist das Erkunden der eigenen Konturen. Das Erfahren der Möglichkeiten von allen Sinnen, Gliedern und Organen unseres Körpers. Unsere Körper sind die Sinnesorgane des Universums. In uns kommt die Schöpfung zum Bewusstsein, genauso natürlich wie in allen anderen Stofflichkeiten dieser Existenz.

Unser Drang zu Extremen, und der Wunsch, über uns hinauszugehen, unsere Kräfte immer mehr und mehr zu vergrößern, stammt sicher aus der Evolution der Säugetiere und deren verständlicher Tendenz, sich gegenüber anderen Vertretern der eigenen Art und anderen Gattungen der Schöpfung durchzusetzen.

Für unsere Suche nach wahren Antworten auf die Fragen: wozu bin ich da? Für unsere Sehnsucht, die Einheit von uns und den anderen zu spüren, hat das Bestreben nach Überwindung und Vorherrschaft keinerlei Bedeutung. Der lustvolle Kampf im und mit dem eigenen Körper ist schön und kann so viel Freude machen, dass ich gar nicht aufhören will zu üben. Aber ich sollte mir über das lohnende Ziel im Klaren sein.

Warum fliegen lernen?

Komm an im Hier und Jetzt. So tönt jeder Yogalehrer gegenüber seien Schülern. Aber die meisten ziehen ihre Follower dann ganz brutal in die Zukunft: Stelle diese Stunde unter ein Motto, fordern sie, was nimmst du dir vor für die nächste Zeit? wähle ein Ziel, das für dich erreichbar ist und denke im Verlauf der Stunde immer wieder daran!

Nun gut. So ein Sangkaplam kann wie ein Mantra wichtige Ziele so oft wiederholen, bis sie internalisiert sind: Ich brauche die Zigarette nicht mehr! Heute schaffe ich den Kopfstand! Ich gönne mir ab jetzt mehr Schlaf. Und es mag so auch ein schöner Transfer in den Alltag möglich werden.

Aber dennoch, ich finde, das alles führt eher heraus aus dem Augenblick, bindet dich an Wünsche aus der Vergangenheit und Ziele der Zukunft an. Sicher ist die gedankliche Bindung an ein Ziel in Indien entstanden. Aber ist sie deswegen automatisch richtig? Ich denke, hier spielt die Enttäuschung des Kindes eine Rolle, das genau weiß, wieviel Mühe es sich auch gibt, das erträumte Ziel erreicht es auf keine Weise. Und so beginnt es zu wünschen und zu träumen. In der Autobiografie eine Yogi beschriebt Yogananda so herzerfrischend ehrlich, wie er mit jugendlichen Kollegen die Wunder herbeisehnt und herbeizaubert. Dass dem sehnlichen Wunsch später die scheinbare Erfüllung folgt, beweist nicht, dass Wunder nötig sind.

Wie gesagt: Warum Fliegen lernen? Warum 1000 Jahre alt werden? Diese Existenz ist vollkommen, wenn wir sie nur richtig verstehen.

Ich betreibe nun seit mehr als 10 Jahren Yoga. ursprünglich hatte ich den Beruf des Gymnasiallehrers erlernt. Wirtschaftlicher Erfolg brachte mir die Möglichkeit einer Yogalehrerausbildung und Yoga-Schulgründung. Ich kommen nicht „vom Tanz“ wie so viele. Ich war auch nie Turner oder Artist. Ich war immer ein wenig ungelenk und vorbeugefaul. Oft hatte ich deswegen ein schlechtes Gewissen.

Durch die regelmäßige Praxis entwickelte sich mein Körper – ich kann inzwischen ohne Krampf im Hüftgelenk ziemlich lange in ardha chandra asana verweilen. Und mein Geist: Ich kann während einer Asana im Geiste in mir herumwandern und in unzähligen kleinen Gelenken und Muskelfasern Besuche abstatten, von deren Existenz ich früher nichts wusste.

Das alles belohnt sich nur durch die dabei erlebte Freude. Nicht das Geld, welches die Schüler zahlen oder deren glänzende Augen und das Danke nach den Stunden. Auch nicht die Aussicht auf ein schmerzfreies Alter oder das nette Image: Yogalehrer-Sein ist schon cool!

Die Freude ist es, die zählt. Und einen Schweinehund hat es in mir nie gegeben, jedenfalls keinen bösen.

Ich halte es für wichtig, Yoga-Übenden den Druck zum Erreichen von Dehnungs-, Kraft-, und Weichheitszielen zu nehmen und sie immer wieder zu ermutigen, dass ihr augenblicklicher Stand die vollkommene Voraussetzung zum Glück in der Verbindung mit dem Kosmos ist. Üben ist wohl nötig, aber keine Selbstüberwindung. Ganz im Gegenteil: Finden sollst du dich, nicht überwinden!

Thomas Propp, Inhaber der Yogaschule Yogalila in Berlin Prenzlauer Berg, 12.11.2016